Wieso versagen unsere Eliten – oder versagen nicht vielmehr wir mit ihnen?
23. Oktober 2017

Wieso versagen unsere Eliten – oder versagen nicht vielmehr wir mit ihnen?

Ein Beitrag von Dr. Leo Hemetsberger.

 

Was sind Eliten

Die Definition verweist etymologisch auf das französische Wort élite, das sich vom lateinischen Verb eligere (auswählen, part. passiv. electus) ableitet. Eine weitere Entsprechung findet man in der altgriechischen Redewendung καλὸς καὶ ἀγαθός – kalós kagathós, „schön und gut“. Dies war die Bezeichnung für das Ideal der körperlichen Schönheit in Verbindung mit geistiger Vortrefflichkeit. Sie spielt in den platonischen Dialogen eine wichtige Rolle. Zuerst wurde diese Redewendung als Bezeichnung für Adelige, später allgemein für hervorragende Persönlichkeiten verwendet.

Damit wären wir schon mitten in einem elitären Selbstverständnis gelandet, denn die Kenntnis der griechischen und lateinischen Sprache galt lange Zeit als Erkennungszeichen einer elitären Schicht. Bis weit über das Mittelalter hinaus beherrschte nur die geschulte Bildungselite die alten Sprachen. Ihr Selbstverständnis leitete diese Elite bis ins 18. Jhdt. von einer göttlichen Emanation (lat. Ursprung, Hervorgehen) her. Dagegen war lange Zeit schwer etwas zu sagen, bis sich aus dem erstarrten Inneren dieses Systems langsam eine nächste Elite emanzipierte, um die alten Normen niederzureißen. Das wurde die Aufklärung. Sie zog neue Grenzen, etwa jene zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen.

Allgemein werden Eliten als tatsächlich oder mutmaßlich über den Durchschnitt hinaus qualifizierte Personenkreise bestimmt. Es kann sich um eine Bildungs-, Kompetenz-, Funktions-, Positions-, Herkunfts-, Alters-, Leistungs- oder Machtelite handeln, und natürlich kommen hier Überschneidungen und daraus resultierende Irritationen vor. Spannend ist zu beobachten, dass innerhalb elitärer Gruppen und in ihrem Verhältnis zum Außen sehr ähnliche Mechanismen greifen. Einige davon möchte ich hier in ihrer Ambivalenz beleuchten.

Wieso es Eliten gibt

Der Widerstand gegenüber elitären Ansprüchen ist wahrscheinlich so alt wie das Phänomen Elite selbst. Schon der Kyniker Diogenes relativierte den königlichen Anspruch Alexander des Großen, als er dessen Angebot, ihm einen Wunsch zu erfüllen, ausschlug und sagte, er solle ihm nur ein wenig aus der Sonne gehen.

Die Behauptung des naiven Egalitarismus (von franz. egalité, Gleichheit), dass man nur die Eliten beseitigen müsse, um ein harmonisches Miteinander aller in der Gesellschaft zu verwirklichen, hält einer genaueren Betrachtung nicht stand und ist oft nur ein implizit geäußerter Machtanspruch einer Gegenelite. Das Ideal der Gleichheit aller bleibt ebenso ein frommer Wunsch wie die Versicherung, dass eine straff hierarchisch strukturierte Organisation mit einem klaren Oben und Unten perfekt funktioniert.

Soziale Systeme kann man in vier Erscheinungsformen differenzieren: chaotisch, einfach, kompliziert oder komplex. In chaotischen Systemzuständen führen viele Einflussfaktoren zu sehr dynamischen Beziehungen. Da es keine erkennbaren Muster gibt, ist es unmöglich, logische Zusammenhänge festzumachen. Davor fürchtet sich jede soziale Gemeinschaft, weil dies bedeutet, dass alle Verbindungen desintegrieren und dies zur Auflösung der Basisübereinkünfte führt. In chaotischen gesellschaftlichen Zuständen gibt es weder Sicherheit noch Zusammenhalt oder Vertrauen, also auch keine Freiheit. Das reine Chaos hat es so historisch nie gegeben, revolutionäre Umbrüche wurden immer von elitären Personenkreisen mit klaren Zielen inszeniert. Das Chaos ist nur ein Horrorszenario, das man gerne als Menetekel an die Wand malt, um durch Angst politischen Gehorsam zu erreichen. Auch der von Thomas Hobbes beschriebene bellum omnium contra omnes, der Krieg aller gegen alle als gesellschaftlicher Urzustand, ist nur ein Konstrukt, von dem er in seiner theoretischen Schrift ausgeht, um das staatliche Gewaltmonopol des absolut regierenden monarchischen Leviathans zu begründen.

In einfachen sozialen Systemen wirken wenige Einflussfaktoren, es gibt stabile Beziehungen und klare Ursache-Wirkungszusammenhänge. Aus diesem Strukturverständnis ergeben sich natürlich-hierarchische und damit elitäre Konsequenzen (Hierarchie von gr. ἱερός, hieros, heilig und ἀρχή, archē, Anfang, Prinzip). Die Älteren waren vor den Jüngeren da, das ist ein einfacher, weil zeitlich durch die Geburt bedingter, genealogischer Zusammenhang. Die Jüngeren haben die bestehende Ordnung zu respektieren, die Älteren sind zur Obsorge verpflichtet. Das Verbindende ist, romantisch betrachtet, die Liebe zwischen den Menschen. Seit Menschengedenken versuchen die Eltern ihren Kindern ihre gemachten Erfahrungen weiterzugeben, mit mäßigem Erfolg, wie man sieht. Sobald man über diese einfache Familienstruktur zu Sippe oder tribalen Verbänden hinausgeht, wird es kompliziert. Ohne Eliten wäre die Steuerung dieser Systeme nicht mehr möglich.

In komplizierten Systemen gibt es viele Einflussfaktoren, enge Verknüpfungen der involvierten Elemente, daher stabile Beziehungen und durch gegebene Ordnungsrahmen bestehende Ursache-Wirkungszusammenhänge. Durch die Regelübereinkünfte sind Steuerungen möglich. Dies übernehmen die Eliten. Eine komplementäre Doppelspitze aus politischer und spiritueller Führung, von Häuptling und Schamane bis zu Bundespräsident und Kardinal hat sich als tragfähiges Konzept gezeigt. Im Zuge aussergewöhnlicher Ereignisse erweisen sich die Ordnung als wohlgemeinte Illusion, die leicht zerplatzt denn, wie man in Wien zu sagen pflegt, nix ist fix. Wenn Situationen komplex werden, und als solche enthüllen sie sich meist unvorhersehbar, werden Eliten auf ihr ethisches Rüstzeug zurückgeworfen, denn Komplexität lässt sich nicht managen.

Komplexe Systeme als lebendige Organisationen wirken durch die vielen einander beinflussenden Faktoren und deren dynamische Beziehungen nicht monokausal. Man kann es im System mittels mehrerer überlappender Schichten oder einander durchdringender Sphären beschreiben. Das Agieren der Elemente im System kann nicht eindeutig erfasst werden. In komplexen Systemen sind jedoch Muster wahrnehmbar. Sie entsprechend zu erkennen, auch intuitiv, ist für die Eliten zur Entscheidungsfindung notwendig.

Was sollten Eliten tun

Schon Platon meinte, Eliten seien in ihrem Streben und Handeln dem Wohl des Ganzen verpflichtet. Er vertrat ein elitäres Konzept, dass die Gemeinschaft durch die am besten ausgebildeten Fähigen regiert werden solle. Nur sie seien in der Lage, von ihren niedrigen Bedürfnissen zu abstrahieren, ihre persönlichen Vorteile hintan zu stellen und daher im Stande, im Sinne des Gemeinwohls zu denken und zu handeln. Die geeigneten Kandidaten seien durch einen langen Auswahlprozess zu bestimmen und dem Ideal entsprechend zu erziehen. Der platonische Ansatz zieht sich durch die Geschichte der Bildungstheorien herauf bis in die aktuellen Debatten. Es gibt Länder, wie etwa Frankreich oder die USA, die mit Ausbildungsinstituten, die Eliten erzeugen, kein Problem haben. Andere empfinden aufgrund schrecklicher historischer Erfahrungen mit den ebenfalls auf Platon zurückgehenden Begriffen Eugenik und Euthanasie starke Hemmungen, sich offen zu einer Förderung besonders Begabter zu bekennen. Das Feld Elitenbildung ist stark ideologisiert. Für Platon sind in der Elitenschulung vier Tugenden der Herrschenden wesentlich: das Streben nach Weisheit und die Tapferkeit als Wissen, was zu suchen und zu meiden sei, heute spricht man von situationsspezifischem Handeln. Die Besonnenheit kann als Achtsamkeit, als Ressourcenbewusstsein der Verhältnismäßigkeit und als Einsicht in die Vernünftigkeit der gewählten politischen Ordnung, der Wechselwirkung von Regierenden und Regierten bestimmt werden. Die Gerechtigkeit ist schließlich das prozessuale Zusammenwirken der Einzeltugenden auf das gemeinsam gewählte Gute der Gemeinschaft, die die antike Philosophie als gr. εὐδαιμονία, Eudaimonie (Gemeinwohl, Glückseligkeit) bezeichnet hat.

Vor- und Nachteile von Eliten

Soziale Entitäten unterscheiden sich von „den Anderen“ durch gemeinsame Codes, sie praktizieren nonverbale, etwa gestische aber auch sprachliche Rituale und kultivieren einen spezifischen Habitus, der sich innerhalb bestimmter Grenzen zu bewegen hat. Dadurch finden zwischen den Teilnehmern soziale Anpassungsprozesse statt, die die Individualität und manchmal auch den Handlungsrahmen, im Sinne des Wohls der elitären Gemeinschaft, beschränken. Die Angst vor dem Verlust der Mitgliedschaft führt zu Konformismen. Diese werden positiv gesehen als einigende Traditionen gelebt, haben aber negative Effekte durch Denk- und Handlungsverbote. Überschreitungen werden als mangelnder Gehorsam angesehen und führen zu Sanktionen durch das Kollektiv. Elitäre Gemeinschaften sind auch in sich oft stark hierarchisch strukturiert.

Die persönliche Identität definiert sich über die Unterschiede. Das Besondere ist die wesentliche Bestimmung als Seinsverständnis innerhalb elitärer Gemeinschaften. Die daraus resultierenden Verschiedenheiten und Gegensätze führen zu Wertungen, deren Begründungen nur vom Standpunkt der Gemeinschaft aus nachvollziehbar sind. Soziale Systeme verweisen oft auf eine gemeinsame Herkunft als paradigmatische Geschichten, etwa als historische Legenden. Aus ihnen fühlen und leben die Mitglieder ihre Einheit durch Inklusion versus Exklusion. Das führt in vielen Eliten zu sehr überschaubaren Formen an Diversität. Klassisch ist etwa der Ausschluss von Frauen, sei es jahrhundertelang aus dem Bildungssystem, aber auch aktuell aus Gremien mit elitärem Selbstverständnis, wie etwa Aufsichtsräten oder leitenden politischen Funktionen.

Da Eliten sich gegenüber anderen Eliten und der sogenannten Masse abgrenzen, manifestieren sie ihre Einheit über gemeinsames Erleben und regelmäßige, auch öffentliche Präsenz. Man kultiviert einen Habitus, zeigt sich und anderen gegenüber rituell jene Haltung, die sich als Handlungsweise Geltung verschaffen soll. Das wird von den Nichtteilhabenden als elitäre Attitüde gerne negativ konnotiert wahrgenommen und führt zu Kritiken an den behaupteten Ansprüchen. Aus der negativen Rückmeldung verdichtet sich das Elitebewusstsein innerhalb der kritisierten Gemeinschaft manchmal bis zum Glauben an die eigene individuelle oder kollektive Auserwähltheit, dem ideologisch geprägten Elitarismus. Solche stark verengenden Perspektiven führen durch Schwarzweißmalerei á la: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns…“, zu Zuspitzungen, woraus Konflikte resultieren.

Grenzen elitärer Handlungräume

Elitäre Vereinigungen, die das Besondere für sich in Anspruch nehmen und gemeinsame Ziele bestimmen, die sie erreichen wollen, bilden strategische Eliten. Sie wollen ihre innere Überzeugung verwirklicht sehen. Kann man sich aber selbst die Autorität, also jene Würde und das Ansehen zuschreiben und sich so den Einfluss verschaffen, um etwa gesamtgesellschaftlich Relevantes durchzusetzen? Wie sind solch mächtige Zumutungen begreifbar und wo liegen ihre Grenzen? Autorität wird immer von außen zugeschrieben, etwa dann, wenn sich in der Haltung und den Handlungen der betreffenden Person Übereinstimmungen mit den eigenen Ansichten widerspiegeln. Die Eliten haben sich durch regelmäßige rituelle Unterwerfungen unter die gemeine Masse die zeitlich begrenzte Zustimmung ihres Führungsanspruchs zu holen. Elitäre Selbstanmaßungen bleiben in demokratischen Systemen, die nach ihrem Wesen komplexe Systeme sind, immer prinzipiell hinterfragbar. Eliten können sich hier nur durch das Verweisen auf konsensual bestimmte Rahmenbedingungen, etwa durch Wahlen rechtfertigen. Jene Eliten, die die Aufhebung eines demokratischen Grundkonsenses als Ziel haben, können nicht mit Toleranz rechnen. Eliten haben nur beschränkt die Möglichkeit, über eigene Horizonte hinauszublicken, weil sie an ihre inhärenten Regeln gebunden sind. In einem anderen Rahmen, einem fremden kulturellen Raum, zu anderer Zeit, in Folge divergierender Beziehungsvorstellungen oder anders strukturierter sozialer Verhältnisse relativiert sich das eigene Elitendasein, wenn es nicht mächtig werden kann, sehr schnell. Eliten sind daher meist Nutznießer der bestehenden Verhältnisse, die ihren eigenen Fortbestand sicherstellen. Schon Machiavelli hat darauf hingewiesen, dass gerade diejenigen, die Vorteile aus den aktuell bestehenden Regeln und Umständen ziehen, sich stark gegen Veränderungen wehren. Wieso sollte man auch etwas ändern? Die einfache Frage nach dem „Cui bono?“ (Wer hat etwas davon?) macht oft grundlegende Bedingtheiten sichtbar, die Veränderungen verhindern.

Es stimmt auch, dass die Masse nie selbst regiert, es sind immer Eliten, die deren Interessen (mit) wahrnehmen. Ob sie wirklich im Sinne öffentlichen Interesses wirken, ist im gemeinsamen Diskurs zu erörtern und immer öfter eine Frage, die an die Höchstrichter gestellt wird.

Das (moralische) Versagen der Eliten, das unser eigenes ist Es wird immer Eliten geben, ob im wirtschaftlichen, künstlerischen, politischen, technischen oder wissenschaftlichen Bereich. Ob sich diese als Nomenklaturen, oligarchische Machtzirkel oder als Ausdruck gelebter partizipativ repräsentativ demokratischer Vereinbarungen fassen, Mut, Demut, Disziplin, Entscheidungswille und das Führen durch Beispiel werden überall als Tugenden genannt, wenn positiv von Eliten die Rede ist. Selbst auf das aristokratische Prinzip wird verwiesen, wenn Einzelne sich fähig zeigen, Menschen zu führen. Der Soziologe Pareto nannte allerdings die Geschichte den Friedhof der Aristokratien. Darüber hinaus sollen Eliten Selbstaufgabe praktizieren, man benötige die Bereitschaft sich zu opfern, müsse Risiken auf sich nehmen, das Scheitern sei ein Moment elitären Handelns usf.

Unsere heutigen tatsächlichen und vermeintlichen Eliten werden mit sozialethischen Forderungen konfrontiert, die sie niemals erfüllen können und man bezichtigt sie in Krisenzeiten des Versagens, obwohl sie aus der ihnen gesetzten Systemlogik gar keinen oder einen nur sehr kleinen Handlungsspielraum haben. Ein medial inszenierter moralischer Druck soll einen Gesinnungswandel und anschließend reale Veränderungen bewirken. Die postulierten Zielzustände entspringen aber oft einem verzerrten Wunschbild. Zu gerne wälzt man die Schuld einfach an die Eliten ab und entledigt sich der Selbstverantwortung. Wenn die Anpassung politischer Rahmenbedingungen an die zentralen Herausforderungen unserer Zeit notwendig ist und deren rechtliche und steuerpolitische Umsetzung der politischen Willensbildung bedarf, dann können Eliten wichtiges, aber nicht alles dazu beitragen. Jeder Einzelne bleibt aufgefordert, aktiv zu bleiben, auch wenn das hier als frommer Wunsch erscheinen mag. Eliten können in offenen Gesellschaften, die gewaltenteilig strukturiert sind, nur das umsetzen, wozu sie von ihren wachen Bürgern beauftragt wurden. Falls eine Elite versucht, partikulare Interessen durch ein System organisierter Unverantwortlichkeit durchzusetzen, indem bestimmte Fragen dezidiert ausgeklammert bleiben, so liegt es in der politischen Mitverantwortung aller Bürger, etwas zu unternehmen. Politik findet vor allem in der Demokratie im real-öffentlichen Raum statt. Virtuelle Mittel können unterstützen, aber am Ende fallen wichtige Entscheidungen, wenn institutionelle Prozesse korrumpiert wurden, mitunter auch auf der Straße, wo der Einzelne sein bürgerliches Selbstverständnis im elitäregalitären Spannungsfeld schon durch bloße Anwesenheit zum Ausdruck bringen kann.

Dr. Leo Hemetsberger www.philprax.at © 2015